Herz aus Metall (Leseprobe)

Von Paul Schecter (=Alf Stiegler)

1.  Victoria

Heavy Metal Fans sind die leichteste Beute.

Sie sitzt in ihrem schwarzen Beetle und tupft sich den überschüssigen Lippenstift aus den Mundwinkeln. Die Konzerthalle leert sich allmählich. Alles voller finsterer Gestalten, die donnernd lachen, sich zuprosten und in einer Lautstärke unterhalten, als müssten sie sich unter einem laufenden Düsentriebwerk verständlich machen.

Nachdem sie ein letztes Mal ihr Outfit geprüft hat, steigt sie aus dem Wagen. Ihr schwarzes Haar hat sie zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden, ein paar Strähnen sehen aus, als hätten sie sich zufällig gelöst. Natürlich haben sie das nicht. Genau drapiert sind sie, umrahmen ihre Wangen und berühren ihr Kinn; sie brechen das Gemälde auf, strahlen Leidenschaft aus und wecken bei jedem das zärtliche Bedürfnis, sie ihr aus dem Gesicht zu streichen.

Sie setzt ihre Chucks sorgfältig auf den Asphalt. Die Gummikappe und die Sohle heben sich mit ihrem makellosen Weiß vom Schwarz des Segeltuchs ab, aus dem der restliche Schuh besteht. Es hat geregnet und alles ist mit feuchtem Laub bedeckt; sie möchte auf keinen Fall, dass die strahlenden Sohlen von dem Matsch beschmiert werden. Aber das ist gut so. Es untermalt das Bild, das sie von sich zeichnen möchte: Den Blick schüchtern auf den Boden gerichtet, ein kleiner Schritt nach dem anderen, die Haarsträhne mit einer zarten Berührung an die Schläfe gepinnt, ganz in ihrer eigenen, kleinen Welt versunken.

Und sie kann sie spüren, die Blicke, als sie auf die ersten Konzertbesucher trifft; das raue Gelächter verstummt, das Gebrüll wird leise, nur noch das Knirschen von schweren Stiefeln, das Klirren von Patronengürteln, Halsketten und Nietenarmbändern. Sie sieht, wie sich der Strom der Stiefel vor ihr teilt, und hebt den Kopf, um dem ersten, der ihr Platz gemacht hat, ein zartes Lächeln zu schenken. Ein junges, glattrasiertes Männergesicht blickt sie an, umrahmt von glattem, schwarzgefärbtem Haar, das ihm bis zum Bauchnabel reicht; er trägt ein umgedrehtes Kreuz um seinen Hals, ein Pentagramm und eine einzelne Patrone; die Lederjacke, in die er sich gehüllt hat, knarrt bei jeder Bewegung und lüftet ein Shirt mit einem unlesbaren Schriftzug darauf, und in der Hand hält er ein Trinkhorn. Aus seinem Mund stößt eine Atemwolke, als ihn ihr Lächeln trifft und sie schenkt ihm einen Augenblick ihrer Aufmerksamkeit. Er ist hübsch, aber er ist jung, und sie hat höhere Ziele. Sie lässt den Blick wieder zu Boden sinken, aber ihr Lächeln bleibt, und sie kann hören, wie sein Halsschmuck rasselt, als er sich nach ihr umdreht.

„Mann, pass mit deinem Met auf!“, grummelt einer, „wenn ich so klebrig nach Hause komme und nach Honig stinke, denkt meine Frau noch, dass Winnie Puh mich bestiegen hat!“ Er beginnt donnernd zu lachen und die Anderen stimmen ein. Nur der junge Schwarzhaarige nicht. Sie weiß, dass er ihr hinterher sieht und glaubt, sein Herz bis hierher schlagen zu hören.

Heavy Metal Fans sind die leichteste Beute.

Ein paar Meter weiter öffnet jemand den Kofferraum eines VW-Busses. Gitarren lärmen aus den Lautsprechern und der Sänger klingt, als würde er halbzerkaute Fleischbrocken hochwürgen. Ein Pulk hat sich davor versammelt. Ein Glatzkopf mit vollständig zugepiercten Ohren spielt Luftgitarre, ein blonder Lockenkopf lässt zu dem Lärm seine Mähne kreisen und ignoriert, dass er dabei die Hälfte aus seinem Bierbecher verschüttet, zwei Typen versuchen, in den Kotzgesang des Sängers einzustimmen. Sie sehen aus, als wären sie über Mamas Schminkkästchen hergefallen und hätten sich im dunkeln bemalt: Weiß geschminkte Gesichter, schwarze Lippen und dunkle Augenringe, von denen verästelte Schmierer abzweigen, als wäre der Schminkstift abgerutscht. Ein drahtiger, brünetter Bursche mit ansehnlichem Bizeps unter dem Shirt hält die Hände seiner Freundin, die auf der Ladefläche des Busses hockt und ihre Beine herabbaumeln lässt.

Von ihr wird sie als Erstes entdeckt.

Frauen wittern sie, wie das Reh den Wolf, sie wittern die Gefahr, die von ihr ausgeht, und sie alle reagieren mit der gleichen stillen Feindschaft.  Die feige Waffe der Unterlegenen. So blitzt diese Feindschaft auch in den Augen der Freundin des Brünetten; sie sieht wie ein billiges Abziehbild von ihr selbst aus: Das Abziehbild trägt ordinären violetten Lippenstift, wo sie selbst ein dezentes Veilchenblau gewählt hat, das Abziehbild hat sich die Haare mit einem blauschimmernden Billigschwarz gefärbt, während ihr eigenes Haar mit den natürlichen Glanz einer flüssigen Nacht gesegnet ist, das Abziehbild hat ihr Gesicht weiß geschminkt, während sie selbst nur ein wenig Blässe und Textur gepudert hat, das Abziehbild trägt Netz und Lack, während sie selbst eine dezente Strumpfhose und ein tiefblaues Kleid gewählt hat, das ihr knapp über die Knie fällt, das Abziehbild hat die Brüste so fest ins Dekolleté gepresst, dass sie jeden Moment herauskullern müssten, während sie selbst nur einen runden Ausschnitt gewählt hat, der den weichen Schwung ihres Schlüsselbeins betont, und das Abziehbild hat einen ordinären Totenschädel auf dem Oberarm tätowiert, während sie selbst eine hauchzarte Feder an der Innenseite ihres Unterarms hat; sie schwebt in der Luft und wirft einen Schatten, der genau an ihrem Handgelenk endet.

Ihre Blicke treffen sich, und Schreck zuckt beim Abziehbild auf; sie packt ihren Freund und zieht ihn heran, bindet ihn mit einem Kuss an sich, damit er auf keinen Fall einen Blick auf sie werfen kann, die so unschuldig durch die feuchten Blätter schwebt, mit einem leisen Lächeln auf den Lippen, den Finger die Wange gelegt, damit jeder die Feder an ihrem Unterarm sehen kann.

Sie erreicht den Pulk, hebt kurz den Kopf; ihr Blick trifft den des Luftgitarrenspielers und sie kann sehen, wie es ihn durchfährt; hätte er wirklich eine Gitarre in der Hand, wäre die ihm nun aus den Fingern gerutscht und auf dem Boden zerschellt. „Alter…“, hört sie ihn keuchen, „Hast du gerade diese…“, er unterbricht es, spricht es nicht aus, möchte nicht, dass er sich verrät, dass sie es hört – und das ist das Beste an Heavy Metal Fans: Sie sehen aus wie Wikinger auf dem Kriegspfad, aber wenn sie eine Frau von ihrem Kaliber sehen, bleiben ihnen die Kampfesrufe in der Kehle stecken, und sie werden wieder zu den kleinen Jungen, die keine Ahnung haben, wie man mit Mädchen spricht.

Sie hört, wie ihr Abziehbild einen giftigen Kommentar schnaubt – es schnappt ihr hinterher, dieses Beta-Weibchen, eine leere Geste, ein letzter Versuch etwas Würde zu wahren, doch im Stillen dankt sie ihren Göttern, dass die Gefahr an ihr vorübergezogen ist.

Sie erreicht den Eingang zum Konzertsaal. Ein Koloss von einem Mann steht davor, breite tätowierte Arme, eine Glatze, die vor Schweiß glänzt und Brustmuskeln, auf denen er seinen Wasserbecher hätte abstellen können. Ein Bart bedeckt sein Gesicht, aber er ist kurz und akkurat gestutzt. Der Koloss unterhält sich mit einem Fan, ein Altrocker offenbar, mit Jeans und Motorradstiefeln und einem ausgebleichten Led Zeppelin Shirt; den dünnen, grauen Haarkranz, den er noch hat, hat er sich wachsen lassen und jetzt fällt er ihm bis auf den Rücken, sein ledriges Gesicht wird von breiten, dünnen Lippen geteilt, in die er eine Kippe geklemmt hat. Vermutlich Inventar der Konzerthalle, einer jener Besucher, die hier auf jedes Konzert kommen, weil sie auf dem Backstage-Klo ihre Unschuld verloren haben. „Ich weiß nicht“, sagt er zum Türsteher „Das Zeug, was die jetzt als Classic-Rock hypen ist doch kein Classic-Rock!“ Er nimmt einen Zug von seiner Kippe, schwenkt sie in einer weitläufigen Geste und Glut löst sich davon. „Ich meine Horisont und Dead Lord und Honeymoon Disease…“

Sie tritt vorsichtig in den Halbkreis aus Licht, der aus dem Eingang auf den nassen Asphalt fällt, und blickt schüchtern von ihren Schuhen auf. „Entschuldige“, sagt der Koloss, „Ich kann dich nicht mehr reinlassen.“ Seine bärige Stimme kippt, so leise spricht er.

Sie presst die Lippen aufeinander, hält den Kopf gesenkt und blickt zu ihm auf, die Augen weit geöffnet, die Haarsträhne hinter das Ohr gestrichen. Der Altrocker tritt einen Schritt zurück, als ob er sich ihrem Bann zu entziehen versucht, und verschränkt seine Arme.

„Wirklich nicht?“, fragt sie den Koloss, so verletzlich, so voll schüchterner Hoffnung, und öffnet die Lippen einen kleinen Spalt. Der Türsteher wischt sich mit dem Arm über den Mund, als er das sieht; dass er damit seinen Wasserbecher festhält, scheint er nicht zu bemerken, und dass er einen Großteil des Wassers auf seine Lederweste verschüttet, auch nicht. Etwas geschieht mit dem Gesicht des Altrockers. Grinst der etwa?

„Ich möchte doch nur…“, stammelt sie, „ich meine, ich…“, ganz das schüchterne Mädchen, das es nicht wagt, diesen verzweifelten Wunsch auszusprechen, der sie so schrecklich quält. „Es ist nur…“ Sie seufzt entmutigt und blickt zu Boden. Der Türsteher kommt einen Schritt näher und sie weiß, wie gern er ihr jetzt das Kinn mit dem Finger anheben möchte, wie gern er ihr in die Augen sehen möchte, wie gern er sie ermutigt hätte, sprich es ruhig aus, Kleines! Sie wählt diesen Augenblick, um den Kopf zu heben. Ihr Blick trifft seinen, er bleibt wie vom Donner gerührt stehen.

„Es ist…“, spielt sie einen neuen Vorstoß, „Ich glaube, ich habe meinen Schlüssel da drin verloren, und…“, sie macht einen niedlichen Knicks und beißt sich auf die Unterlippe, was bin ich doch für ein dummes kleines Mädchen, dem Türsteher klappt der Mund auf, und der Altrocker… tja, der Altrocker grinst tatsächlich; so breit, dass er sich mit der Kippe im Mundwinkel fast die Augenbrauen versengt. Halt bloß die Klappe, Opa, und wage es nicht, mir die Tour zu versauen!

„Geh rein“, sagt der Türsteher endlich, so heiser, dass er kaum zu verstehen ist. Er räuspert sich, aber seine Stimme bleibt so belegt wie zuvor. „Beeil dich bitte“ Sie blickt zu ihm auf, kaut noch immer auf ihrer Unterlippe, und schenkt ihm den dankbarsten Blick, den sie zu bieten hat. Er bemerkt, dass ihm der Mund, wie ein Scheunentor offen steht und verschließt ihn verlegen; eigentlich könnte sie jetzt einfach an ihm vorbei gehen, aber sie beschließt, sich einen Spaß zu gönnen, zieht ihre kleine Nase in einer koketten Geste kraus, gibt ihm damit den Rest, und genießt es, wie ihm der Mund abermals aufklappt, ohne dass er dagegen etwas ausrichten könnte.

Sie schwebt an ihm vorbei und ihre Fingerspitzen berühren seinen Arm, sie kann hören, wie tief und stockend er einatmet, wie er sich an ihrem Duft betrinkt, und dann ist sie endlich im Eingangsbereich verschwunden – und kann hören, wie der Altrocker zu Lachen beginnt.

„Das Einzige, was die da drin vergessen hat, ist ihr Sinn für Anstand, das weißt du, oder?“

„Halt die Klappe.“

„He, ich verstehe dich“, er verschluckt sich an seinem Kichern, „wenn die sich an mich rangeschmissen hätte, wäre ich wahrscheinlich auch schwach geworden.“

„Halt die Klappe.“

„Die ist hinter unserem Black-Metal Goldjungen her, das sag ich dir.“

„Na wenn schon“, sagt der Türsteher und klingt enttäuscht. Sein Kopf weiß, dass sie nur mit ihm geflirtet hat, damit er sie reinlässt, sein Bauch jedoch hofft etwas ganz anderes. „An dem hat sich bisher noch jede die Zähne ausgebissen.“

Der Opa lacht wieder, „Die Kleine hat aber ganz schön scharfe Zähne“, gluckst er, „Sieh dich bloß an: Wenn die gesagt hätte „Hüpf!“ Hättest Du nur gefragt „Von welchem Dach?““

Dieses Arschloch!, denkt sie. Sie hasst alte Männer. So eine vertrocknete alte Brust ist ein besserer Schutzschild gegen ihren Zauber, als Knoblauch gegen Vampire.

Sie dringt tiefer in den Eingangsbereich vor. Die Kasse ist nicht mehr besetzt, Flyer und Werbezettel breiten sich über das schwarz lackierte Holz des Empfangstresens, sind von dort zu Boden gefallen, wo sie von Bierpfützen aufgeweicht werden. Überall das Plakat des heutigen Konzerts.

Narbenkrone – Splitter [Release Tour 2019]

Sie betrachtet den peinlich verschnörkelten Schriftzug und das Covermotiv. Ein abgekehrter Kopf, dem statt Haaren feine Verästelungen aus dem Schädel wachsen; die Verästelungen türmen sich zu einem albernen Gebilde, und mit viel Fantasie kann man sich ausrechnen, dass das wohl die beschworene Narbenkrone sein soll. Im nackten Rücken ist das Wort „Splitter“ hineingeschnitten und in einer Faust, die der Abgekehrte hochreckt, glitzert eine Scherbe, an der ein Blutstropfen funkelt. Sie seufzt. So weit sie weiß, ist der Bandleader fast dreißig. Na ja, es wird eben Zeit, dass ihm eine weibliche Hand den Sinn für Ästhetik formt.

„Hast du deinen Schlüssel gefunden?“, ruft der Türsteher. Er hat zu einer festen, lauten Stimme gefunden, die dunkel durch die Korridore brummt. Offenbar hat er sich von ihrem Zauber erholt und versucht nun mit großspurigem Getue darüber hinwegzutäuschen, wie brav er an ihrer Leine gehechelt hat – wie die kleinen Bübchen, die sich vor einem Kleiderständer im Schlafzimmer erschrecken, und danach frech und unverschämt werden, als ob man dann vergessen würde, dass sie gerade nach ihrer Mami geschrien haben.

Sie spielt mit dem Gedanken noch einmal umzudrehen, um dem Großmaul eine weitere Dosis ihres Zaubers ins Herz zu jagen, aber das schnarrende Gelächter von dem Gitarren-Greis hält sie davon ab. Die Gefahr ist zu groß, dass der Türsteher dem senilen Sack nun beweisen möchte wie groß und intakt seine Eier noch sind, und sie hat immerhin Pläne, die sie wegen einer kleinen Eitelkeit nicht Gefahr bringen möchte.

„Ich hasse Groupies“, knurrt der Rock-Opa und sie spürt, wie der Zorn sie durchfährt. Ich bin kein Groupie, du mieser alter Bastard!, will sie ihn anschreien, aber ich weiß verdammtnochmal was ich wert bin, und es ist mein gottverdammtes Recht, dass ich mir jemanden aussuche, der ehrgeizig ist, der Erfolg hat, der Geld verdient, der sich formen lässt, jemand, der mich aus dem Mittelmaß des Lebens herausholt, aus dem Erzieherjob, wo die Kolleginnen mich hassen, weil der Chef mir alles durchgehen lässt, wo die Mütter mich hassen, weil die Väter zu sabbernden Idioten werden, wenn sie mich sehen, und wo die einzigen, an denen mein Zauber abprallt, die Kinder sind, um die ich mich eigentlich kümmern sollte.

Sie merkt, dass sich ihre Faust um einen Stapel Flyer gekrallt hat und versucht sich zu entspannen. Zerknülltes Papier fällt zu Boden und kullert über verschmiertes Linoleum; sie zertritt es und geht in den Konzertsaal hinaus.

Das Saallicht ist an und zeigt, wie verbraucht dieser Ort hier schon ist; Putz bröckelt von den Wänden, der Boden ist mit Löchern übersät, das Holz des Tresens sieht aus, als hätten die Ratten daran genagt. In der Luft hängt ein Gestank von altem Schweiß und verschüttetem Bier. Auf der Bühne schieben rustikale Kerle Lautsprecher und Gitarrenverstärker herum, während sich Musiker an ihnen vorbeidrängen und ihre Instrumente in Sicherheit bringen.

Und da steht er. Der Gitarrist und Songwriter von Narbenkrone. Sein Pseudonym kennt jeder „J“, steht es im CD-Booklet und unter jedem Text, und „Jay“ nennt ihn auch jeder, obwohl sich die Gerüchte ranken, was hinter diesem geheimnisvollen Buchstaben stecken könnte.

Sie tut so, als würde sie ihn nicht bemerken, und beginnt durch den Konzertsaal zu schlendern, den Blick scheinbar suchend auf den Boden gerichtet, ohne ihn jedoch auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Klein und schlank ist er, kaum größer als eins siebzig und statt der üblichen langen Haare trägt er sein Haar kurz; es ist dunkelblond und fransig geschnitten und steht ihm unordentlich nach allen Richtungen ab. Seine Hose ist eine enge schwarze Jeans, er trägt fast die gleichen schwarzen Chucks wie sie, nur dass man das Weiß der Gummikappe seiner Schuhe nur noch mit viel gutem Willen erahnen kann. Er hat sich eine schwarze ausgewaschene Jeansjacke übergestreift, die an allen Ecken und Enden aufgerissen ist, und darunter schimmert ein ausgewaschenes, graues T-Shirt, auf dem sich zwei abgerissene Köpfe einen Zunkenkuss geben. Sowas werde ich dir ganz schnell austreiben, mein Freund.

Noch hält sie sich im Schatten, aber sie zieht die Kreise enger, wie ein Wolf, der sich an die Beute heranpirscht.

Bei Jay stehen zwei Jungs, kaum älter als Zwanzig, und sie strahlen ihn voller Bewunderung an. Beide haben das aktuelle Splitter-Tourshirt übergestreift, und einer reicht ihm eine CD und einen Signierstift. Fast schüchtern nimmt er beides entgegen und wendet sich ab, um, nach sorgfältigem Überlegen, in das Booklet zu schreiben. Als er CD und Stift zurückgibt, kann er seinen Fans kaum in die Augen sehen und sein Gesicht leuchtet, wie das eines kleinen Chorknaben, der gerade das größte Lob seines Lebens bekommen hat. Jetzt, da das Konzert vorbei ist, und die Menge verschwunden, wo die letzten Töne verklungen, und seine Bühnen-Ich von ihm abfällt, kann sie ihn sehen, diesen verwundeten kleinen Jungen, der seine Sehnsucht in zornige Texte einsperrt; sie kann sehen, wie er hinter dieser Mauer aus harten Gitarren und gekreischtem Gesang aufsteigt und sich schüchtern in der Welt umblickt.

Das ist der Moment, den sie wählt, um aufzublicken, um sich das Licht ins Gesicht fallen zu lassen und ihn mit ihrer bewundernsten Stimme anzusprechen. „Du… Du bist Jay!“, stammelt sie und sie klappt den Mund auf, als könnte sie ihr Glück nicht fassen, dass sie ihm hier tatsächlich begegnet. „Ich…“, stottert sie und kommt näher, „entschuldige, ich wollte nur meinen Schlüssel suchen, und…“

Die beiden Fans weichen vor ihr zurück, wie vor einer Geistererscheinung, sie stammeln ein paar Dankesfloskeln in Jays Richtung und schleichen dann davon, wie Welpen, denen sich ein Wolf nähert. „Oh!“, ruft sie ihnen hinterher, „Bleibt doch! Ich wollte wirklich nicht…“, sie streckt die Hand nach ihnen aus, als ob sie sie zurückhalten wollte, die tätowierte Feder an ihrem Unterarm schimmert zart im Lampenlicht. In einer Geste höchster Verzagtheit lässt sie den Arm sinken, sieht den beiden hinterher, bis sie verschwunden sind, knetet sich dann die Hände vor dem Bauch und dreht den Kopf so zaghaft zu dem Bandleader um, als würde sie es nicht wagen, ihm in die Augen zu sehen.

„Ich habe mich umgesehen“, sagt Jay. Freundlich. Distanziert. Er hat ein hübsches, fast weiches Gesicht und der Dreitagebart verleiht ihm einen Hauch Feuer. „Hier sind keine Schlüssel.“ Er sieht ihr in die Augen, fest und dunkelgrün leuchten sie, der kleine, verwundete Junge ist längst wieder weggesperrt. Er kämpft dagegen an, denkt sie und spürt, wie ihr Herz schneller schlägt. Es ist so viel reizvoller, wenn sie sich wehren.

„Du weißt, dass es keinen Schlüssel gibt, oder?“, sie kichert glockenhell und rümpft die Nase zu diesem koketten kleinen Lächeln, das den Türsteher fast aus den Stiefeln gehauen hätte. Sein fester Blick flackert. Er schluckt. Kriegt sich wieder unter Kontrolle. „Ich bin Victoria“, sagt sie und legt den Kopf schief. Sie kann sehen, wie es in seinem Hals zuckt, als wäre er ihrer Bewegung am liebsten gefolgt. Er beherrscht sich. „Aber alle nennen mich Vic.“

Er schürzt die Lippen. „Meinen Namen kennst du ja offensichtlich“, sagt er. Seine Stimme ist angenehm und hell. Allerdings, denkt sie bei sich, Maximilian Engelzung. Kein Wunder, dass du dir ein Pseudonym verpasst hast. Sie kichert und kommt ihm näher „Was denkst du denn?“ Sie streckt die Hand nach ihm aus, als ob sie ihn berühren wollte, kurz vor seinem Arm jedoch zuckt sie zurück, als ob sie sich gerade noch beherrschen könnte. Er schluckt abermals. Eine Gänsehaut breitet sich über die Stelle, wo sie ihn fast berührt hätte, und wandert bis hoch zu seinem Hals.

„Ich liebe deine Texte“, haucht sie, „Sie sind so tief… und echt!“ Das zieht immer. Als sie sehen kann, dass diese Worte wie Pfeilspitzen in seine Brust eindringen, als sie spürt, wie sehr sie ihn durcheinanderbringen, beschließt sie, noch eins drauf zu setzen. „Ich kann die Verletzungen sehen, aus denen sie herausgeblutet sind…“, haucht sie. Lange hat sie an diesem Satz gefeilt. Heavy Metal Fans. Verwundete kleine Jungen, die ihren Schmerz in große, schwere Worte kleiden und sie mit Bedeutung schwängern. Damit lässt sich arbeiten.

Er sieht sie stumm an und fast glaubt sie, sie ist zu weit gegangen. Aber dann kann sie es fast hören, dieses Knacken, mit dem seine Seele aufbricht und wie eingesperrte Sehnsucht aus den Rissen schäumt. Das ist der Augenblick, in dem sie ihm die Hand auf die Brust legt. Mein Gott, er zittert…

Sie tritt einen Schritt zurück und nimmt die Hand von seiner Brust. Ganz langsam, erst den Handballen, dann die Fläche, dann die Fingerspitzen, mit denen sie ein letztes Mal über seinen Körper streicht, über den verwitterten alten Druck dieser grässlichen abgerissenen Köpfe. Sie beißt sich auf die Unterlippe und lächelt ihn mit einem verwegenen ich kann nicht glauben, dass ich das jetzt mache-Lächeln an, während sie einen Stift und ein Stück Papier aus ihrer Tasche kramt. Dann kommt sie ihm so nahe, dass er ihre Körperwärme spüren kann, dass ihr Duft an ihm aufsteigt, der süße, saubere Schweiß ihrer Halsbeuge, durchsetzt von einem Hauch Parfum; sie legt ihm den Zettel auf die Brust, drückt das Papier dort fest, und spürt, wie heftig ihm das Herz schlägt. Sie blickt ihm ins Gesicht, wie erstarrt ist er, und sein Atem stößt zitternd hervor, aber noch immer kämpft er: Sein Blick flackert, die Empfindungen zucken wie Blitze darüber; sie lächelt ihr zärtlichstes Lächeln, ehe sie auf den Zettel blickt und ihre Telefonnummer darauf zu schreiben beginnt; ganz nahe kommt sie ihm, als wollte sie jede Ziffer und jeden Buchstaben mit vollendeter Sorgfalt erschaffen, und achtet darauf, dass ihr der Atem warm und weich aus dem Mund strömt und seinen nackten Hals entlangstreicht.

Dann ist sie fertig und blickt auf, in dieses zitternde Kunstwerk, das sie geschaffen hat.

Heavy Metal Fans sind die leichteste Beute.

Noch immer versucht er ihrem Blick standzuhalten, der arme Teufel, ein letztes Auflehnen, ehe er sich ergeben wird. Sie nimmt seine Hand, die erschlafft an ihm herabbaumelt, und führt sie zu dem Zettel an seiner Brust; als er das Papier berührt, nimmt sie ihre eigene Hand fort, tritt einen Schritt zurück und blickt ihn mit großen, verheißungsvollen Augen an.

Eine Tür im Bühnenbereich fliegt auf und Tobias „Cheeks“ Graupner tritt in den Konzertsaal. Der Sänger und zweite Gitarrist von Narbenkrone ist ein großer Kerl mit breitem Gesicht, das er auch noch mit einem gewaltigen Backenbart betont, langes, glattes, schwarzes Haar fließt ihm über die Schultern; er schleppt zwei Tragetaschen in der Hand und eine hält er mit den Zähnen fest. Wie vom Donner gerührt bleibt er stehen und starrt zu seinem Bandkollegen herüber; irgendwie fasziniert sieht er aus, irgendwie abgestoßen, wie Van Helsing, der Dracula dabei erwischt, wie er sich mit ausgefahrenen Zähnen über den Hals einer Jungfrau beugt. Sie blickt zu ihm auf und lächelt ihn an, ihm klappt der Mund auf, die Tasche rutscht heraus und knallt ihm auf die Füße. Sein Fluchen hallt von den Wänden wider.

Ich muss mich beeilen, denkt sie und tritt abermals an Jay heran, „Ruf mich an“, haucht sie ihm ins Gesicht und kommt seinen Lippen dabei so nahe, dass sie sich fast berühren, und als sie dann endgültig geht, kann sie sehen, wie fest sich seine Finger um das Papier krallen, das er sich auf die Brust presst. Sie schenkt ihm ein letztes Lächeln, dreht sich um und beginnt aus dem Saal zu schweben.

„Heilige Scheiße Jay“, haucht der zweite Gitarrist in den Saal, und sie weiß, dass er ihr hinterherstarrt, „Heilige! Scheiße!“, er beginnt zu Lachen und sie hört, wie hastig er seine Sachen zusammenpackt und durch den Saal schlurft. Fast kann sie es vor sich sehen, wie sie da stehen, die beiden Gitarristen, wie sie ihr Blicke voller Sehnsucht hinterherwerfen, wie sie ihre Telefonnummer von Jays Brust klauben und betasten und bestaunen, wie einen Schatz.

Ach ja, denkt sie, Heavy Metal Fans sind eben die leichteste…

Etwas fliegt über sie hinweg und landet vor ihren Füßen. Ein zerknüllter Zettel. Sie kann die Anfangsbuchstaben ihres Namens zwischen den Falten schimmern sehen. Ihr Schritt stockt, aber sie bleibt nicht stehen. Das Lächeln bleibt auf ihrem Gesicht wie festgefroren.

Das ist noch nicht vorbei, mein Freund.

 

2.  Jay

Jay taumelt in den Backstage-Bereich. Sein Mp3-Player brüllt und alles, was an Gefühlen hochkommen möchte, schwimmt auf harten Gitarren davon. Sein Herzschlag beruhigt sich allmählich wieder, seine Haut kühlt ab, seine Gedanken auch.

Munch packt in aller Ruhe sein Schlagzeug zusammen. Er ist in seiner Drummer-Dimension, pustet die Holzspäne, die seine Drumsticks ausgehustet haben, von den Bespannungen und wischt zärtlich mit einem Tuch über seine Becken, ehe er sie in den Tragetaschen verstaut. Die liebevolle Sorgfalt des Drummers beruhigt Jay, sie lenkt ihn ab.

Cheeks hat den Großteil des Elektrokrams schon eingepackt und in den Van gebracht, nur seine Gitarre steht noch da, sein Peavey 5505 Verstärker und die Lautsprecherbox, in die sich 4 Lautsprecher in einem Pressholzkasten drängen. Bespannt ist die Box mit einem Metallgitter, als ob das verdammte Ungetüm nicht schon so schwer genug wäre.

Jay selbst hat seine Sachen direkt nach dem Auftritt rausgebracht, wie er es immer tut, und nur Dennis hat seinen Scheiß noch nicht zusammengeräumt. Ein verschlungener Berg aus Kabeln bedeckt seinen Verstärker, Effektgeräte sind wie tote Rieseninsekten darum verstreut und sein Bass liegt über all das gestürzt wie eine Bierleiche. Vom Bassisten selbst keine Spur. Wahrscheinlich hockt er irgendwo mit dem Soundmann und sie kiffen sich die Rübe voll. Jedes verdammte Mal. Jay spürt Ärger aufsteigen, und er ist froh darüber; es übertönt das Gefühl in seiner Brust, dieses alte, süße, verlockende, verheerende Gefühl, das ihm wie Heroin durch die Adern strömt, sobald er so dumm ist, und es zulässt – aber er lässt es nicht zu, sperrt es ein, drückt es weg und kann spüren, wie es sich gegen seinen Kerker wirft. Das tut es jedesmal. Und jedesmal wird es dann leiser, bis es endlich schweigt.

Als er herumwirbelt, um nach Dennis zu suchen, prallt er fast gegen Cheeks. Der Gitarrist steht offenbar schon länger da und beobachtet ihn. Er hat die Fäuste in die Hüften gestemmt und unter seiner gerunzelten Stirn blähen sich die Backen zu diesem breiten Grinsen, dem er seinen Spitznamen zu verdanken hat. Als Jays Blick ihn trifft, tippt er sich auf die Ohren und formt mit den Lippen die Worte „Was hörst du?“ Eine einfache Frage, aber Jay weiß natürlich, dass da mehr dahinter steckt. Als könnte Cheeks seine Gedanken lesen, (und wer weiß, vielleicht kann er das tatsächlich), grinst er noch ein wenig breiter.

„Celtic Frost“, brummt Jay und nimmt einen der Stöpsel aus dem Ohr.

„Ah“, sagt Cheeks. „Os Abysmi vel daath“

Jay fällt das Kinn runter, „Woher…“

„Ich kenne dich seit der siebten Klasse, alter Freund.“ Das Grinsen sprengt ihm fast das Gesicht. Verdammt nochmal, wenn die Hells Angels Backenhörnchen aufnehmen würde, sähen sie so aus, wie Jays bester Freund. Egal wie unrasiert er ist, wie lang seine Haare, wie blutig das Motiv auf dem T-Shirt – immer denkt man sich: „Ooooh, wie putzig! Darf man den streicheln?“

„Denkst du etwa“, sagt Cheeks, „Ich hab nicht gesehen, welchen Eindruck dieser niedliche kleine Schmetterling bei dir hinterlassen hat?“ Er deutet in Richtung der verlassenen Konzerthalle, wo sich diese… Kreatur an ihn herangemacht hat. „Da kannst du noch so sehr den abgekühlten Black Metal Zyniker spielen und ihr die zerknüllte Telefonnummer hinterher schmeißen“, er krault sich den Backenbart, wie er es immer macht, wenn er besonders geistreich sein will, „Eine wirkungsvolle Showeinlage, das muss ich dir ja lassen, ein bisschen pathetisch vielleicht, aber na ja, das war ja schon immer deine Schwäche.“

„Woher wusstest du welcher Song“, knurrt Jay. Er weiß es längst, will aber, dass Cheeks endlich zum Punkt kommt und die Klappe hält. Draußen kann er noch das zusammengeknüllte Papier sehen, und erahnt ein paar Ziffern ihrer Telefonnummer. Cheeks sieht ihn mit einem muss ichs wirklich aussprechen? Ausdruck an, und Jay verschränkt die Arme. Und ob. Er nimmt auch den zweiten Ohrstöpsel heraus, sie baumeln ihm vor der Brust und der Refrain des Songs dudelt leise hervor.

Statt zu antworten, schnappt sich das Backenhörnchen seine Gitarre und stimmt in den Song mit ein, „I deny My own Desires“, singt er mit und in dem Moment klingt er wirklich ein wenig wie Tom Warrior. Dann streift er sich den Gitarrengurt wieder über den Kopf. „Ich verleugne mein eigenes Verlangen“, übersetzt er, als ob das nötig wäre, „Ich frage mich“, sagt er, während er die Gitarre liebevoll in die Gigbag-Tragetasche packt, „wie sehr du dein Verlangen wirklich verleugnest“, er legt sich einen Finger in übertriebener Denkerpose ans Kinn. „Ich wette dieser Zettel liegt morgen nicht mehr da.“

„Fick dich Cheeks!“

„Oh, darauf kannst du Gift nehmen“, sagt er und macht eine unanständige Handbewegung, „und ich weiß genau wer dann in meiner Vorstellung auf mir herumturnt.“ Er grinst in Richtung der zerknüllten Telefonnummer. Jay muss lachen, obwohl ihm nicht danach ist. Cheeks kennt seine Freundin schon seit dem Kindergarten, Tobias und Tanja ist längst zu einem einzigen Wort verschmolzen, und nie würde er sie betrügen, schon gar nicht mit so einem „Schmetterling“, wie er diese engelsgesichtigen Satansgeschöpfe nennt, von denen Jay sich so gern den Kopf verdrehen lässt.

„Und jetzt hilf mir endlich die Box rauszuschleppen“, sagt der Gitarrist und packt einen der Griffe. Dabei fällt ihm die Kabelhölle des Bassisten ins Auge. „Wenn Dennis seinen verkifften Arsch nicht in fünf Minuten hierherbequemt, kann er seinen Scheiß morgen selbst abholen. Passt bestimmt super in einen Smart.“

Jay grinst. „Besonders, wenn er den so gut aufgeräumt hat, wie den Rest von seinem Zeug.“ Er geht zum anderen Ende der Gitarrenbox, will schon anheben und überlegt es sich anders. So ganz will er Cheeks seine Klugscheißerei nicht durchgehen lassen. Er steckt sich die Hörer wieder in die Ohren, und als er dem Gitarristen herzhaft auf den Arm boxt, kann er seinen Fluch nur noch von seinen Lippen ablesen. >das gibt einen blauen Fleck, du Penner!<

Nachdem endlich alles im Bandbus verstaut ist, geht Jay noch einmal zurück in die Konzerthalle. Um sicherzugehen, dass wir nichts vergessen haben, sagt er; Cheeks erwidert nichts darauf, schnallt sich an und nickt nur, ohne eine Miene zu verziehen. Als Jay dann die Telefonnummer vom Boden klaubt und zärtlich entknüllt, glaubt er zu spüren, dass sein bester Freund im gleichen Augenblick zu Grinsen beginnt.

3.  Sabrina

Narbenkrone was?“ Sabrina steht am verrosteten alten Audi ihres großen Bruders und betrachtet den Berg aus Konzertflyern, der sich auf dem Beifahrersitz türmt und von dem sich Papierlawinen in den Fußraum ergießen.

Sven zuckt mit den Schultern. „Ein üblicher Job am Mischpult“, sagt er. „Die Platte von den Burschen ist letztes Jahr durch die Decke, aber erst jetzt fühlen sie sich fit genug an ihren Instrumenten, um sich auf Tour zu trauen.“

Sabrina schürzt die Lippen. „Soso, Perfektionisten also.“

Ihr Bruder trompetet verächtlich mit der Zunge. „Das Zeug hört sich an, als würden sich Kreissägen gegenseitig anbrüllen, während im Hintergrund ein Presslufthammer scheppert.“

Sie muss grinsen. „Und doch machst du ihnen den Sound.“ Svent grinst auch. „Dann besteht zumindest eine winzige Chance, dass man aus dem Lärm so etwas wie Melodien heraushören kann“, sagt er. „Außerdem hat ihr Bassist immer hammergutes Gras am Start.“ Er nimmt einen tiefen Zug von seinem Joint und reicht ihn seiner Schwester. Sie winkt ab. „Davon werde ich nur paranoid.“

Sie nimmt das Booklet der CD in die Hand und beginnt darin zu blättern. „Das Nichts ist die einzige Wahrheit“, liest sie vor, „Black Metal ist die Vermählung mit diesem Nichts, das am Ende des Lebens auf uns wartet, es ist eine Abkehr von aller falschen Hoffnung, eine demütige Verbeugung vor der Sinnlosigkeit unserer Existenz. Küsse der Fäulnis auf den Mund, ehe sie dich verschlingt.“ Sie blickt auf und zieht die Lippen kraus. „Schwere Kindheit gehabt, was?“, fragt sie und Sven muss lachen, verschluckt sich dabei am Rauch, den er sich gerade in die Lunge gesaugt hat. „Die ticken alle so“, krächzt er, als sich sein Husten langsam wieder legt, „Als Black Metaller musst du deine Frühstücksflockenmilch schwarz färben, und darfst nur blutroten Rotwein aus echten menschlichen Schädeln trinken.“

Das klingt ja fast verlockend, denkt sie und blickt über das Auto hinweg in die Senke hinab, wo sich das Gelände des Hotels ihrer Eltern erstreckt. Romantik-Hotel Kampiano. Ein aprikot gestrichener Kitschbau, mit weißen Gipsfresken verziert, umgeben von weitläufigen Wiesen und Feldern, einer Pferdekoppel, einem beschatteten Teich, Feldern mit Beeren zum Selberpflücken, Parkours zum Schlendern, Pavillons und Parkanlage, der Rasen dazwischen so sauber gestutzt, wie auf einem Golfplatz, und Blumenarrangements in derart strenger Farbgestaltung, dass man fast von Sortendiskriminierung sprechen könnte. Ihr Bruder stupst sie an. „He, ich muss gleich los, und die Verkabelung vorbereiten. Komm doch mit!“

Sie sieht den Joint in seiner Hand mit gehobenen Brauen an.

„Mattheo kommt dann und holt mich ab.“

„Das will ich dir auch geraten haben.“

„Du hast meine Frage nicht beantwortet.“

Komm doch mit. Ein verlockendes Angebot. Sie wirft einen Blick auf das Café, das sich an das Hotel schmiegt. Pärchen und ein paar alte Damen sitzen dort, und lassen sich selbstgemachte Kuchenklassiker mit romantischem Namen bringen. Der Romeo und Julia-Bienenstich ist der letzte Renner, gefolgt von der Jane Austen-Schichtentorte. Sven hat während eines Familienrates einmal vorgeschlagen, sie sollten doch eine Titanic-Eistorte auf die Karte setzen, mit einem Zombie-Leonardo als Garnitur, und, als Special Edition für Singles, einen warmen American Pie-Apfelkuchen zum Mitnehmen. Das war das letzte Mal, das man ihn zu einem dieser familiären Geschäftsplanungsmeetings eingeladen hat. Sabrina wirft einen zärtlichen Seitenblick auf ihren großen Bruder, der sich versonnen die schneeweiße Wampe krault, die ihm unter dem Basketballtrikot hervorquillt. Mittleres Kind müsste man sein, denkt sie, und dem ganzen Familienbetriebsscheiß den Stinkefinger zeigen.

Da unten im Café kann sie schon ihre große Schwester herumirren sehen, die Stressflecken in Ellens Gesicht leuchten bis zu ihnen hoch, und das Gekreisch von Janick und Janina hallt von den Weinbergen wieder, die sich über das Hotelgelände beugen. Die beiden zehnjährigen Horrorzwillinge liefern sich eine Verfolgungsjagd zwischen den Café-Tischen und es dauert nicht lange, bis man das leise Klirren von zerplatzendem Geschirr hört, und das Aufjaulen ihrer großen Schwester.

Nicht mehr lange und sie wird mich herunterbeordern, denkt sie.

„Lass dich von ihr nicht ständig herumschubsen“, sagt ihr großer Bruder.

„Sie muss das Café schmeißen und die ganzen Romantik-Events organisieren“, erwidert sie.

„Weil sie nichts davon abgeben will, an dich schon gar nicht.“

„Sie rackert sich den ganzen Tag ab.“

„Wie du dich die ganze Nacht abgerackert hast, um das Event zu retten, bei dem sie sich verzettelt hat.“

„Geschwister müssen zusammen halten.“

„Geschwister sollten ihre kleine Schwester dann aber nicht für ihre Hilfe anbrüllen.“

„Sie ist alleinerziehend und hat zwei anstrengende Kinder.“

„Jetzt klingst du wie Mom und Dad.“

„Es stimmt trotzdem.“

„Dass Frederik abgehauen ist, ist ihre Schuld, und dass ihre Kinder zu solchen Arschlöchern geraten, auch.“

Beide schweigen einen Augenblick.

„Sie behandelt dich wie Scheiße“, sagt Sven dann, „Weil sie Angst hat, dass du das Hotel übernimmst.“

„Bevor ich das mache“, antwortet Sabrina, „Bringe ich mich lieber um.“

„Und doch machst du den besseren Job.“

„Unsinn.“

„Mom und Dad wissen das.“

„Hör auf.“

„Die Gäste wissen es.“

„Hör auf jetzt.“

„Und du weißt es auch.“

Sie sieht ihren großen Bruder an. Es ist selten, dass Sven einen ernsten Gesichtsausdruck hat, und das ist jetzt einer dieser seltenen Momente. Er ist groß und kräftig und obwohl er einen ansehnlichen Kugelbauch hat, den er – aus welchem Grund auch immer! – gerne protzig herausstreckt, wirkt er nicht dick. Sein Kopf ist rund, seine Wangen auch, es passt ausgezeichnet zu seinen großen Lippen. Irgendwie sieht er aus, wie ein zu groß geratener Bengel aus einer Baseball-Komödie. Ein Basecap sitzt ihm auf dem Kopf mit den blonden, kurzgeschorenen Haaren und ein protziges Goldkettchen fällt über sein Basketball-Trikot.

„Wie oft“, fragt er plötzlich, „hast du Gäste dabei beobachtet, wie sie Ellen beiseitenehmen, um sie zu fragen, ob „Die Nette“ nicht auch hier ist?“

Sabrina spürt, wie sich ihre Ohren röten. Nett. Verdammt nochmal. Für ihren großen Mund kann sie ja nichts, und dass sogar die grantigsten Grantler weich werden, wenn sie ihr Lächeln bestreicht, dafür kann sie auch nichts. Nicht einmal Ehefrauen haben ein Problem, wenn ihre Männer dahinschmelzen, es ist ja kein flirtendes Lächeln, sagen sie dann, es ist ein offenes und interessiertes und freundliches Lächeln – es ist nett! Sie verspürt den Drang, bei diesem verdammten Wort auszuspucken, und blickt an sich herab. Vielleicht sollte sie aufhören, sich in freundliche Sommerkleider zu hüllen. Sonnengelb und Blumen, dazu Sandalen mit dezenten Kork-Absätzen und blass lackierte Fußnägel. Als würde das verdammte Hotel in ihren Kleiderschrank kriechen und sie in ein verdammtes Klischee verwandeln. Sie seufzt. Wahrscheinlich würde man sie auch dann noch als „nett“, bezeichnen, wenn sie in Gummistiefeln und Schlachterschürze auftaucht und ein blutiges Schweinebein auf den Rezeptionstresen donnert. Vielleicht würde es helfen, wenn sie sich diese goldbraunen Locken absäbelt. Keine Locken, sagt Florin-Jerome dann immer, sanft gewelltes Engelsgold…, sie schafft es gerade noch ihre Augen nicht zu verdrehen. Verdammt, eine Glatze sollte sie sich scheren, allerdings würde man ihr dann vermutlich Erstrecht wieder auf den großen Mund glotzen.

Die Nette. Ich kotze gleich.

Und ihrer großen Schwester geht es genauso.

„Man kann abends immer an der Tiefe ihrer Stirnfalte ablesen, wie oft sie nach „der Netten“ gefragt wurde“, sagt Sven. Er nimmt seine Basecap ab und streicht sich über den kurzgeschorenen Schädel. „Gestern war ihre Stirnfalte so tief, dass ich am liebsten eine Kreditkarte durchgezogen hätte.“

Sabrina blickt auf. „Kreditkarte durch die Stirnfalte, was?“ Sie boxt ihm auf den Arm. Auf der milchweißen Haut zeichnen sich sofort rote Flecke ab. „Du solltest nicht so viel kiffen, großer Bruder.“

Er streichelt sich über die geboxte Stelle und sieht seine kleine Schwester an. Dann fangen beide an zu kichern.

Sabrina lehnt sich mit den Armen auf das Wagendach und legt ihr Kinn darauf. Wind weht von der Hotelanlage zu ihnen hoch und bringt den Geruch all der Blumenarrangements mit sich; er ist so süß, dass ihr fast schlecht wird. Küsse der Fäulnis auf den Mund, ehe sie dich verschlingt. Genauso fühlt es sich an, wenn sie da runter muss. Als würde man der Fäulnis auf den Mund küssen.

Sie bückt sich in die Beifahrerkabine und holt die CD aus dem Wagen. „Durch die Decke ist das gegangen?“, fragt sie. „Halten sich jetzt für Rockstars, was?“

Sven drückt seinen Joint aus. „Dann würde ich denen nicht die Shows abmischen“, sagt er und schwingt sich ins Auto. Die Stoßdämpfer ächzen, als sie ihn abfedern. „Sie weigern sich, in großen Hallen zu spielen“, sagt er. „Kontakt zu Fans und so. Deswegen klappern die auch jeden mickrigen Club hier in der Gegend ab. Damit jeder, der will, die Chance kriegt, sie zu sehen, anstatt auf dem Schwarzmarkt Höllenpreise für die Tickets zahlen zu müssen.“

Sabrina ist beeindruckt.

Sven schnaubt. „Lass das Höschen an, kleine Schwester“, sagt er, worauf sie ihm mit dem Handrücken auf den Brustkorb klatscht.

„Pass bloß auf, was du sagst, Freundchen.“

„Das ist doch bloß so ein Heavy Metal Ding“, schnaubt er, „Underground, Baby. Die könnten locker 50,- Euro für ein Ticket nehmen – und was verlangen sie? Acht Euro. Acht!“

„Anständig“, erwidert Sabrina und dreht die CD in ihrer Hand.

„Zum Kotzen“, brummt ihr Bruder, „Die mit ihrem wir sind so korrekt zu unseren Fans-Heiligenschein. Als ob Heavy Metal nicht schon längst im Mainstream angekommen wäre und auch dort die Fan-Kuh ohne Scham gemolken wird.“

„Vielleicht Erstrecht ein Grund“, räumt Sabrina ein. Sie schiebt die Flyer vom Beifahrersitz und setzt sich neben ihren Bruder. Sven beobachtet mit schiefem Mund, wie sie durch das Textblatt blättert.

„Nimm das Zeug bloß nicht ernst“, sagt er. „Das ist alles noch größeres Getue als das ganze Deutschrap-Machogequatsche.“

Sabrina sagt nichts. Das Cover, die Schriftart, das Design. Die Songtexte heben sich in zarter Schrift über Naturbilder in Schwarzweiß ab, nebelverhangene Berge, ein karger See, über dem der Dunst wie eine graue Zunge liegt, ein Herbstwald, dem ein Sturm die Blätter entreißt. Sie liest in die Texte hinein, spürt eine seltsame Aufrichtigkeit, eine seltsame Anziehungskraft. Die Songs strahlen eine dunkle Poesie aus, die sie seltsam berührt.

„Geblendet“, murmelt sie, „Wir stechen uns die Augen aus, um der Einsamkeit zu entfliehen.“ Sie muss schlucken. „Lieber blind für den Käfig in den sie uns stecken, als sehend für immer allein.“

„Frierts dich etwa, kleine Schwester?“ Sven betrachtet sie und runzelt die Stirn. Sabrina bemerkt die Gänsehaut, die sich über ihre Arme gebreitet hat. Sie antwortet nicht. Betrachtet das Bandfoto. In Schwarzweiß gehalten ist es, und man sieht nur die Rücken der Bandmitglieder. Einer hat zwei Drumsticks in der Hand, ein anderer den Bass über den Rücken geschnallt. Ein Hüne von einem Gitarristen hat sein Instrument auf den Boden gestellt und an sich gelehnt, während sein Blick in die Ferne geht. Der zweite Gitarrist ist klein, hält seine Gitarre am Hals gepackt, als wäre sie ein Rettungsring. „J“ steht unter ihm. Sie blättert zu den Texten zurück. Findet den Buchstaben unter fast jedem Song. Music und Lyrics: J.

Als sie das Booklet zuklappt, kommt dahinter das breite Grinsen ihres Bruders zum Vorschein. „Dir flattert ja wirklich das Höschen“, sagt er, reißt sich eine Dose Cola auf und stürzt sich ein paar Schlucke in die Kehle. „Lass das bloß deinen Blumenmann nicht wissen.“

„Nenn ihn nicht so.“

„Du nennst ihn so.“

„Ich bin auch seine Freundin.“

„Hmm“, Sven nickt und rülpst, „Nicht mehr lange, dann bist du seine Verlobte.“

Sabrina schweigt. Wind aus dem Tal kommt auf, pustet ein paar Flyer aus dem Wagen und rauscht dann in den Wald. Sven beobachtet sie und lacht. „Du solltest wirklich etwas gegen diese Wirkung tun, die das Wort Verlobung auf dich hat.“ Er blickt den Flyern hinterher, die auf den Feldweg niedergehen. „Ich dachte bisher immer, grün um die Nase werden sei nur ein Sprichwort.“ Er nimmt noch einen Schluck Cola. „Was machst du eigentlich, wenn er dir wirklich einen Antrag macht? Kotzt du ihm dann vor die Füße?“

Gar nicht so abwegig, denkt sie. „Jetzt hör schon auf!“, schimpft sie, als Svents Grinsen immer breiter wird. „Es fühlt sich einfach an, als würde ich damit nur noch fester an dieses verdammte Hotel gekettet.“ Sie bläst die Backen auf. „So eine Verlobung… da macht man sich einfach Gedanken!“ Lieber blind für den Käfig, in den sie uns stecken, als sehend für immer allein… Sie räuspert sich. „Außerdem…“

Sven nimmt ihre Hand. Und da ist er wieder, dieser ernste, seltene Gesichtsausdruck. „Pass auf dich auf, kleine Schwester.“ Ehe sie etwas erwidern kann, drückt er ihr die CD in die Hand. „Viel Spaß.“ Er grinst wieder. „Und lass das Höschen an.“

Sie muss lachen. „Hau bloß ab, Sven Swabbelbauch!“

„Zu Befehl!“, sagt er, salutiert, und wölbt seinen Wanst heraus, der weiß und haarlos unter dem Trikot hervorquillt. Sabrina verzieht das Gesicht, und will ihn darauf hinweisen, dass das aussieht, als käme ein Mozzarella zur Welt, aber da klingelt ihr Telefon. Ihr Gesicht glättet sich. Svens Bauch schrumpft und verschwindet unter dem Trikot. Sie blickt auf das Handy. Es ist Ellen.

„Einsatzbefehl, was?“, fragt Sven.

„Kannst du wohl laut sagen.“

„Ich bin noch ein bisschen hier“, sagt er. „Mattheo braucht noch. Wenn du es dir anders überlegst, weißt du, wo du mich findest.“

Sie winkt ihm zu und macht sich an den Abstieg. Der Kies knirscht gedämpft unter ihrer Kork-Sohle und die CD liegt festumschlossen in ihrer Hand. Das Hotel wird mit jedem Schritt größer, mit dem sie sich ihm nähert, die Tür ist wie ein dunkler Schlund, der sich zu öffnen scheint, um sie zu verschlingen. Jetzt fange ich auch schon an, so zu reden, denkt sie und nimmt die CD in die andere Hand. Die Worte im Textheft scheinen sich ihr trotzdem in die Haut zu drücken.

Lieber blind für den Käfig, in den sie uns stecken, als sehend für immer allein.